Ein Essay für das Modul Medienpädagogik bei Professor Uwe Sander

Das Konzept des kollektiven Gedächtnisses geht auf den französischen Philosophen und Soziologen Maurice Halbwachs zurück. Im Jahr 1939 stellte er die These auf, dass es eigentlich keine persönliche Erinnerung im engeren Sinne gibt. Denn das soziale Umfeld beeinflusst alle Gedächtnisinhalte, das heißt, dass sie dadurch geformt werden. Für Halbwachs ist das kollektive Gedächtnis ein Repertoire an Erzählungen über die Vergangenheit (vgl. Stangl). Der Grad der Formung hängt sicherlich von verschiedenen Faktoren ab. Während sich ein Kind von seinen Bezugspersonen noch relativ leicht beeinflussen lässt, wird der Einflussgrad bei einem Erwachsenen geringer ausfallen und mit zunehmendem Alter sukzessive sinken.

Wenn wir das von Halbwachs entwickelte Konzept auf das World Wide Web (WWW) übertragen, lässt sich das kollektive Gedächtnis mit den Begriffen Web 1.0 und Web 2.0 sehr gut erklären. Mit Web 1.0 ist die Verformung des Wissens nur einseitig möglich, d.h. es gibt nur eine Instanz, die ohne Einfluss die Inhalte einer Webseite editiert. Erst durch das Web 2.0 ist es möglich, Internetseiten mitzugestalten bzw. zu formen. Hier ist die Rede von Blogs, Foren oder sozialen Netzwerken. So ist aber auch die Online-Enzyklopädie Wikipedia seit ihrer Entstehung (2001) sukzessive von mehreren Nutzern geformt worden. Das kollektive Wissen auf Wikipedia hat heute ein Alter von über 20 Jahren erreicht.

In den 1980er Jahren entwickelte das Ehepaar Aleida und Jan Assmann – von Halbwachs‘ Gedanken ausgehend – das Konzept weiter und prägte die Begriffe kommunikatives sowie kulturelles Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis ist das Ergebnis der Alltagskommunikation und hat die Eigenschaften der Ungeformtheit, Unorganisiertheit sowie zeitlichen Begrenztheit. Maximal 3 bis 4 Generationen können beliebig gewählte Erinnerungen weitergegeben werden, sodass das kommunikative Gedächtnis lediglich 80 bis 100 Jahre zurückgeht. Im Laufe der Zeit wird das kommunikative Gedächtnis immer mehr geformt und transformiert sich in das kulturelle Gedächtnis, das auch als Ausdruck der geformten Kultur bezeichnet wird. Es ist ebenfalls das Ergebnis aller Dokumentationen des Wissens – heute bspw. Wikipedia, Blogs, Podcasts usw. (vgl. Bengt Hagelstein). Das kulturelle Gedächtnis kann sich erst durch einen Träger formen – es bedarf eines Mediums, worin Informationen strukturiert festgehalten werden können.

Das Internet ist lediglich eine Verbindung von mehreren Servern, auf denen das Wissen in 0 und 1 eingespeichert ist. Würde die Kommunikation zu einem Server unterbrochen werden, wäre das Wissen (aus dem kulturellen Gedächtnis) auch nicht mehr abrufbar (vgl. Bengt Hagelstein). Die Technologie ermöglicht eine unbegrenzte – je nach Speicherplatz – Anhäufung von Wissen, die aber nur solange abrufbar ist, sofern es keine technischen Probleme gibt.

Schlussfolgerung

Die Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses im digitalen Zeitalter zeigt sich deutlich in der Art und Weise, wie Wissen heute gespeichert und verbreitet wird. Während Halbwachs die soziale Dimension der Erinnerung betonte, erweitern die Assmanns das Konzept durch die Einführung der Begriffe des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses. Das Internet spielt eine zentrale Rolle in der Erhaltung und Weitergabe dieses Wissens, wobei es sowohl Möglichkeiten als auch Herausforderungen mit sich bringt.

Frage zum Nachdenken: Wie können wir sicherstellen, dass das kollektive Gedächtnis im digitalen Zeitalter nicht nur erhalten bleibt, sondern auch authentisch und unverfälscht weitergegeben wird?

Quellen

  • Stangl, W. (2018). Stichwort: ‚kollektives Gedächtnis‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. WWW: http://lexikon.stangl.eu/12631/kollektives-gedaechtnis/ Zugriff am 20.11.2018
  • Bengt Hagelstein, Geschichte: kollektives, kommunikatives und kulturelles Gedächtnis, YouTube Zugriff am 20.11.2018